Künstliche Intelligenz ist auf dem Vormarsch. Überall, wie es scheint – ausser in der Bau- und Immobilienwirtschaft. Darauf lassen zumindest die Aussagen von Branchenfachkräften schliessen. Doch der Abgleich mit der Realität zeigt, dass sich viel mehr tut als angenommen.
Baby-Steps trotz Omnipräsenz
Seit gut einem Jahrzehnt geistert das Schlagwort Digitale Transformation durch die Bau- und Immobilienwirtschaft. Weder die Negativzinsen noch die Coronapandemie oder die Energiewende haben die Digitalisierung der Branche ernsthaft beschleunigt. Stattdessen plätschert sie weiter wie ein sanfter Bergbach. Dann kam Chat GPT und katapultierte künstliche Intelligenz (KI) in das Bewusstsein der Gesellschaft. Expertinnen und Spezialisten sind sich seither einig: KI wird alle Wirtschaftszweige disruptiv verändern. Und was sagt die Bau- und Immobilienwirtschaft dazu? Vor allem eins: Nichts überstürzen.
Die zögerliche Einschätzung zur künstlichen Intelligenz hat Tradition in der Branche, wie ein Rückblick auf die Ergebnisse der vergangenen Digital-Real-Estate-Umfragen von pom+ zeigt. 2022 attestieren ihr noch 56% der rund 200 befragten Führungs- und Fachkräfte einen hohen oder sehr hohen Nutzen. Zudem gab knapp über die Hälfte der Befragten an, keine Form von KI im Geschäftsalltag einzusetzen, während 29% bestätigten, KI-Anwendungen befänden sich in ihrem Unternehmen im Aufbau oder bereits im Einsatz. Ein Jahr später hatte Chat GPT seinen grossen Auftritt – und die Immobilienwirtschaft drosselte paradoxerweise umgehend ihre Erwartungshaltung: 2023 sahen nur noch 52% hohen Nutzen in KI, 48% nutzten sie gar nicht, und gerade 30% bestätigten den Aufbau oder Einsatz. Auch aktuell gibt nur knapp ein Drittel (32%) der Befragten an, dass KI im eigenen Unternehmen im Aufbau oder Einsatz ist.
Der Markt dürfte schon weiter sein
Auf dem Zeitstrahl in der Grafik wird die langsame Adoption der Technologie deutlich: Über die letzten drei Jahre konnte die KI in der Immobilienwirtschaft nur um 4% zulegen. Und dies, obwohl in den vergangenen 18 Monaten kaum ein Thema so präsent war. Die Platzierung anderer Innovationen auf dem Hype-Zyklus von Gartner (Grafik oben) zeigt ebenfalls eine Stagnation ihres Reifegrads für die Branche und passt zum Bild der festgefahrenen digitalen Maturität.
Bei näherer Betrachtung kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die aktuelle Omnipräsenz von Chat GPT die Positionierung auf dem Hype-Zyklus zusätzlich negativ beeinflusst. Durch die latente Fokussierung auf generative KI wird oftmals vergessen, dass KI nicht erst seit zwei Jahren existiert, sondern eine jahrzehntelange Entwicklungsgeschichte durchlaufen hat. So sind verschiedene, ebenfalls der KI zuzuordnende Lösungen bereits seit Längerem erfolgreich im Einsatz.
Als Beispiel können Automated Valuation Models genannt werden, also Modelle zur automatisierten Bewertung von Immobilien. Ein weiteres Beispiel sind sogenannte Capturing-Lösungen, mit denen aus gescannten Punktwolken strukturierte 3D-Modelle erstellt werden. Ein Blick auf die im Markt angebotenen Lösungen zeigt, dass KI-basierte Ansätze über den gesamten Lebenszyklus von Immobilien vorhanden sind und von planungsunterstützenden Tools bis zur Optimierung von Stoffflüssen reichen. Diese Beispiele unterstreichen, dass sich KI im praktischen Einsatz befindet, und bereits heute der Immobilienbranche hilft, Prozesse zu optimieren und effizienter zu gestalten.
Gründe für die negative Einschätzung
Ein Grund für die zurückhaltende Einschätzung der Branche gegenüber KI dürfte in den oft überzogenen Vorstellungen davon liegen, was sie tatsächlich leisten kann. Noch beschränken sich die meisten KI-Anwendungsfälle in der Immobilienbranche auf eine unterstützende Funktion, indem sie beispielsweise bei Simulationen oder der Datenanalyse eingesetzt werden. Die wirklich massgebenden Effizienzgewinne von KI dürften künftig aber vor allem von der erweiternden und der autonomen Intelligenz ausgehen. Also dann, wenn die KI als Entscheidungshilfe wirkt, indem sie Erkenntnisse aus Daten ableitet und damit eigenständig neue Lösungen vorschlägt. Oder gar eigenständig entscheidet, welche Probleme wie gelöst werden müssen, um ein vorgegebenes Ziel zu erfüllen. Ebenfalls zu den pessimistischen Einschätzungen beitragen dürften die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen Data Analytics und KI. Denn oft wird KI als reines IT-Thema betrachtet und weniger als integraler Bestandteil des Kerngeschäfts. Ein zusätzliches Hindernis ist der Bedarf an Übungsdaten und Testszenarios, die für eine erfolgreiche Einführung von generativer KI unerlässlich sind. Genau wie bei der Implementierung von Massnahmen zur Nachhaltigkeit gilt auch hier: Ohne fundierte Datenbasis ist kein Fortschritt möglich.
Rasante Weiterentwicklung
Die Entwicklungsgeschwindigkeit von generativer KI ist rasant. Gefühlt kommt fast jeden Tag ein neues, auf generativer KI basierendes Feature auf den Markt. Es ist daher gerade für kleinere und mittelgrosse Unternehmen herausfordernd, den Überblick über die Möglichkeiten zu behalten und den Anschluss nicht zu verpassen. Während sich grosse Unternehmen gegenwärtig stark auf die Nutzung von generativer KI für Wissensmanagement und in der Kundenkommunikation konzentrieren, schrecken die dazu notwendigen Investitionen kleinere Unternehmen ab. Doch es ist für alle Unternehmen unerlässlich, sich Gedanken über sinnvolle Anwendungsfälle von KI zu machen und deren Umsetzung schrittweise anzugehen. Wird dies verpasst, besteht die Gefahr, dass der Aufholprozess später umso aufwendiger wird – oder ein Aufholen gar nicht mehr möglich ist.
Breites «Upskilling» erforderlich
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass KI längst nicht nur eine technische Herausforderung ist, sondern vor allem eine Führungsaufgabe, die strategisch und operativ angegangen werden muss. Der Erfolg von KI-Anwendungen hängt stark von der Qualität der Eingaben und der Fähigkeit der Mitarbeitenden ab, diese Technologie effektiv zu nutzen. Deshalb ist es entscheidend, die Fachkräfte systematisch an KI heranzuführen und sie entsprechend auszubilden. Nur so kann das volle Potenzial von KI in der Immobilienbranche ausgeschöpft werden.
Die Originalversion dieses Artikels erschien erstmals in der IMMOBILIA im August 2024.
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